Wie kleine und mittlere Unternehmen zwischen reinen Onlinehändlern und großen Handelsketten bestehen können

Der E-Commerce in Deutschland wächst und wächst. Allerdings können längst nicht alle Unternehmen von diesem Trend profitieren. Insbesondere kleine und mittlere Händler haben große Probleme, mit der rasanten Entwicklung der Anforderungen im Onlinehandel mitzuhalten.

Der E-Commerce befindet sich in Deutschland weiterhin auf Erfolgskurs. Laut einer Prognose des Handelsverbands Deutschland[1] werden sich die Umsätze im B2C-Onlinehandel von 44 Milliarden Euro im Jahr 2016 um ca. 11 Prozent auf 48,8 Milliarden Euro im laufenden Jahr steigern. Allerdings dürften längst nicht alle Unternehmen an diesem Wachstum partizipieren. Schon jetzt geht die Schere im E-Business weit auseinander. So werden laut einer gemeinsamen Studie des Verbands der Internetwirtschaft eco und des Beratungsunternehmens Arthur D. Little[2] rund 40 Prozent der deutschen B2C-Nachfrage im Onlinehandel durch global tätige Digitalkonzerne wie Amazon oder Ebay befriedigt.

Kleinen und mittelständischen Unternehmen fällt es dagegen schwer, im Onlinehandel Fuß zu fassen. In einer Studie fand zum Beispiel KfW Research[3] heraus, dass im Jahr 2015 gerade einmal 4 Prozent der gesamten mittelständischen Jahresumsätze im E-Commerce generiert wurden. Diese Zahlen zeigen ein klares Bild: Die Integration des Onlinehandels ins eigene Geschäftsmodell ist im Mittelstand noch stark ausbaufähig.

Gefangen zwischen gewachsenen Strukturen und schneller Konkurrenz mit Investorenkapital

Die Gründe für diesen Status quo sind vielfältig. So stellen beispielsweise immer anspruchsvollere Kundenerwartungen besondere Anforderungen an Unternehmen, die eine Multichannel-Vertriebsstrategie verfolgen: Kunden unterscheiden heutzutage nicht mehr zwischen einzelnen Kanälen, sondern nehmen vorrangig die Marke wahr, die verschiedene Touch-Points zur Verfügung stellt. Dementsprechend nutzen die Kunden die unterschiedlichen Kanäle nach Lust und Laune und erwarten, dass diese miteinander verzahnt sind. Filialisten sollten daher ihren großen Vorteil gegenüber den reinen Onlinehändlern – den persönlichen Kundenkontakt – nutzen, um herauszufinden, welche Kanäle tatsächlich von den Kunden gewünscht werden, und diese im Hinblick auf ein perfektes Kundenerlebnis miteinander in Gleichklang bringen. So sollten beispielsweise Sortimente synchronisiert, Gutscheine und Geschenkkarten in sämtlichen Kanälen einlösbar und Warenbestände der Filialen online abrufbar sein.

Die vom Kunden erwartete Verzahnung zu gewährleisten, ist für einen Großteil der mittelständischen Handelsunternehmen, die den Schritt ins Distanzhandelsgeschäft wagen, allerdings eine große Herausforderung. Schließlich handelt es sich bei ihnen oftmals um originär stationäre Händler, die die fundamental unterschiedlichen Eigenschaften des Distanzhandels verstehen und vor dem Aufbau von digitalen Shop-Frontends erst einmal Basisaufgaben lösen müssen:

  • Aufbau von Technologie (PIM) und Prozessen zur Erstellung, Pflege und Distribution von relevanten Produktinformationen

Hierunter fallen Beschreibungen, Attribute, Klassifizierungen, Bilder, Videos, Dokumente und Bewertungen, die der klassische Stationärhandel nicht benötigt, da die Produkte vor Ort erlebbar sind.

  • Signifikanter Ausbau des Sortiments

Der Distanzhandel hat insbesondere auch durch Drop-Shipping-Modelle o.ä. nur geringe Flächenrestriktionen. Die darauf basierende Möglichkeit einer größeren Sortimentslistung muss aktiv genutzt werden, um den Kunden einen Mehrwert zu bieten.

  • Aufbau einer geeigneten Warehouse- und Logistiklösung

Die Nutzung der Filialstruktur ist nur in Testphasen bzw. ggf. als ergänzende Einheit sinnvoll. Die Lager der Filialisten wiederum sind nicht auf Endkundenbelieferung ausgerichtet.

  • Aufbau von Technologie (CRM) und Prozessen zur Pflege und Nutzung von Kundendaten

Geschäftsmodelle im Distanzhandel haben gegenüber dem reinen Stationärhandel den großen Vorteil, dass es keine anonymen Kunden gibt. Dieser Vorteil muss aktiv für eine Individualisierung der Kundenansprache genutzt werden. Reine Filialisten müssen an dieser Stelle mit aufwendigen und teuren Kundenkartensystemen nachhelfen, die aber bis auf einige Ausnahmen nur von einem Bruchteil der Kunden genutzt werden.

  • Etablierung agiler Geschäftsprozesse

Stationäre Händler arbeiten häufig noch mit langfristig abgestimmten und freigegebenen Jahresplänen, Vorlaufzeiten von mehreren Monaten für Einkauf und Vertriebskampagnen sowie stark manuell getriebenen Prozessen. Digitale Vertriebskanäle dagegen können täglich neu ausgesteuert und optimiert werden. Dies muss auch in den Köpfen und Prozessen im Unternehmen gelebt werden.

  • Integration der neuen Vertriebskanäle in die bestehende Unternehmenslandschaft

Der Aufbau von Leuchtturmprojekten oder separaten Vertriebseinheiten kann am Anfang helfen, um schneller in den Markt zu gehen und verschiedene Szenarien durchzutesten. Mittel- und langfristig ist aber nur ein integrativer Ansatz zielführend, um interne Ressentiments abzubauen und die Gesamtorganisation „mitzunehmen“.

Darüber hinaus haben die Unternehmen teilweise über Jahrzehnte Strukturen aufgebaut, die auf die klassischen Vertriebskanäle optimiert wurden. Hinzu kommen eventuell spezielle Serviceleistungen, die der Händler seinen Kunden vielleicht schon jahrelang anbietet und an die sich die Kundschaft aus diesem Grund bereits gewöhnt hat. Mit jedem neuen Vertriebskanal, der getrieben durch neue Wettbewerber, Kundenansprüche und Wachstumsziele etabliert werden soll, entstehen aber meist signifikant neue und andere Anforderungen, die mit den bestehenden Unternehmensprozessen und vor allem -systemen nicht abgebildet werden können. Dadurch entsteht schnell auch bei kleinen und mittelständischen Händlern ein Sammelsurium an Vertriebskanälen, Verantwortlichkeiten und kaufmännischen wie technischen Insellösungen, die der Komplexität von Konzernen nahe kommt.

Diese Komplexität spiegelt sich auch in den Anforderungen an die IT wider: Wenn ein neues IT-System integriert oder das bestehende umgebaut werden soll, sollen sämtliche fachlichen Eigenheiten des Geschäfts berücksichtigt werden. Trotz dieses Anspruchs fehlt es klassischen Handelsunternehmen – vom Tante-Emma-Laden bis zum Großkonzern – jedoch häufig an der nötigen Technologiekompetenz, um die Konsequenzen dieses Vorhabens korrekt einschätzen zu können. Die Gefahr, die Entwicklung einer ganzheitlichen E-Commerce-Strategie zugunsten eines einmaligen Leuchtturmprojekts zu vernachlässigen, ist angesichts der fehlenden Digital-DNA im Mittelstand daher groß.

Zu oft lautet die Maxime: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass.“

Voreilige, kurzsichtige Entscheidungen in der Unternehmensführung sorgen darüber hinaus häufig dafür, dass „Quick-and-Dirty“-Lösungen einer langfristigen Unternehmensstrategie vorgezogen werden. Zudem sind etablierte Vertriebsbereiche oft nicht bereit, ihre komfortablen, gewachsenen Strukturen aufzugeben. Die aus dieser Gemengelage heraus entstehenden Insellösungen erhöhen auf der einen Seite wiederum die Komplexität und damit die IT-Aufwände über Gebühr und machen die Systeme anfälliger. Auf der anderen Seite befriedigen sie aber nur die Anforderungen weniger Stakeholder, sodass der RoI begrenzt ist. Zu oft lautet die Maxime: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass.“ Dieses Motto ist in der heutigen Welt, die von großen Veränderungen und tiefgreifender Digitalisierung sämtlicher Unternehmensprozesse gekennzeichnet ist, allerdings nicht tragfähig und gefährdet die Überlebensfähigkeit des Unternehmens.

Hohe IT-Komplexität und geringe Investitionsmöglichkeiten

Unabhängig von den unternehmensinternen Defiziten hat der Mittelstand gegenüber Fremdkapital-finanzierten Pure-Playern folgende Nachteile:

  • Höhere Komplexität in den IT-Anforderungen durch den Multichannel-Ansatz und entsprechend unterschiedliche Stakeholder-Interessen
  • Altlasten durch eine historisch gewachsene, komplexe IT-Landschaft, die Neugeschäft verhindern, aber das Bestandsgeschäft am Leben halten
  • IT-Investitionen müssen meist aus den Unternehmensgewinnen realisiert werden und sich kurzfristig amortisieren, Start-Ups können RoS-befreit auf Wachstum setzen

Hinzu kommt an dieser Stelle auch ein entschiedener Nachteil im Spiel der mittelständischen Multichannel-Anbieter gegenüber Konzernen. Im Gegensatz zu diesen muss der Mittelstand aufgrund geringerer Umsatzvolumina mit viel geringeren Investitionen die oft ähnlich hohen IT-Anforderungen realisieren. Synergien und Skaleneffekte wirken hier viel geringer als bei multinationalen Wettbewerbern. Die Konsequenz ist, dass der Mittelstand allmählich den Anschluss an die mit größeren Ressourcen ausgestattete Konkurrenz verliert.

Vergleichbarkeit macht austauschbar

Eine weitere Problemstellung ist, dass es sich bei zahlreichen mittelständischen Handelsunternehmen um reine Händler mit geringem Eigenmarkensortiment handelt. Aufgrund der immensen Fülle an Anbietern und Vergleichsmöglichkeiten sind diese im World Wide Web äußerst austauschbar. Ein Kunde, der beispielsweise für sein neugeborenes Kind Babykleidung einer bevorzugten Marke kaufen möchte, wird sich wahrscheinlich entweder dafür entscheiden, bei einem der bekannten Big Player einzukaufen, denen er schon häufiger sein Vertrauen geschenkt hat, oder den Händler anhand des Preises, der Lieferzeit oder anderer Serviceleistungen auswählen. Nur Bestandskunden mit großer Loyalität suchen aktiv im Onlineangebot des Händlers. Bei allen anderen potentiellen Kunden gilt: „laut schreien“ und alle relevanten Touch-Points innerhalb der digitalen Customer-Journey besetzen, um im Relevant Set zu landen. Das Angeln im großen Fischteich lassen sich die Teichbesitzer wie Google, Facebook und Co. aber gut bezahlen. Für den werbetreibenden Händler rechnet sich das nur, wenn der Fisch auch bei ihm anbeißt und er diesen überzeugen kann, in Zukunft doch öfter mal direkt im Teich des Händlers vorbeizukommen. Dies zeigt überdeutlich: Der Konkurrenzdruck, dem mittelständische Unternehmen online ausgesetzt sind, ist enorm.

Mittelständler müssen zu Nischenspezialisten werden.

Um der Vergleichbarkeit zu entgehen, müssen mittelständische Händler eine Nische besetzen, um sich „unvergleichbar“ zu machen und die eigene Identität zu unterstreichen. So können beispielsweise die oben beschriebenen Händler mit hohem Fremdmarkenanteil diesen durch die gezielte Integration von Eigenmarken ins Sortiment spürbar senken. Diese sorgen nicht nur für eine bessere Marge sowie eine höhere Unterscheidbarkeit gegenüber der Konkurrenz, sondern können auch zur Kundenbindung und somit zur Stärkung der Unternehmensmarke beitragen.

Als Nischenspezialist kann das Unternehmen Mehrwerte entwickeln, die dem Kunden gegenüber einen höheren Preis rechtfertigen, und diese gezielt auszubauen. Dabei kann es sich neben maximaler Sortimentstiefe und Nischen-Know-how etwa um besondere Serviceleistungen oder ein perfekt auf die Kundenbedürfnisse abgestimmtes Kundenbindungsprogramm handeln. Basierend auf den anvisierten Mehrwerten kann anschließend eine langfristige Strategie erarbeitet werden, die die Anforderungen an eine auszuwählende IT-Lösung definiert. Auf welche IT-Strategie die Wahl letztendlich auch fällt: Ihr zentrales Ziel sollte ein möglichst nahtloses Einkaufserlebnis für den Kunden sein, das sämtliche vorhandenen und zukünftigen Vertriebskanäle flexibel miteinander verknüpft, auf diese Weise einfaches Konsumieren ermöglicht und somit die Vorteile der verschiedenen Welten miteinander verbindet – und nicht die Nachteile.

Prozesse verschlanken und Inseln vermeiden

Um dieses Ziel zu erreichen, ist in vielen Fällen kein komplexes IT-System nötig. Stattdessen lässt es sich aufgrund der historisch gewachsenen (IT-)Strukturen zahlreicher mittelständischer Handelsunternehmen meist sogar durch eine Verschlankung der Prozesse erreichen. Schließlich nehmen einfache, kundenorientierte Prozesse viel Komplexität aus den IT-Projekten, die dadurch schneller abgeschlossen werden können und sowohl in der Entwicklung als auch in der Pflege weniger Kosten verursachen. Demnach könnte eine finale Lösung beispielsweise darin bestehen, alle Vertriebskanäle auf die Basis lediglich eines PIMs, eines CRMs, eines ERPs – und somit einer zentralen, aber dennoch stark modularen IT-Architektur – zu stellen. Wichtig ist hierbei der Single-Source-of-Truth-Ansatz: Daten werden nur an einer Stelle zentral verwaltet und allen anderen Systemen entsprechend zur Verfügung gestellt.

Die IT-Strategie sollte als Kernbestandteil des Unternehmens verstanden werden.

Eine wichtige Voraussetzung für eine derartige Vereinfachung der Prozesse, die dennoch sämtliche Vertriebskanäle integriert, ist oftmals eine Veränderung der Unternehmensprozesse und -kultur. So sollte die IT-Strategie zum einen nicht als einmaliges Projekt, sondern als Kernbestandteil des eigenen Unternehmens verstanden werden, das alle anderen Bereiche effizient und datengetrieben miteinander verbindet. Dementsprechend sollten IT-Systeme und -Prozesse stetig – und idealerweise sogar agil – weiterentwickelt und den sich verändernden Rahmenbedingungen angepasst werden. Zum anderen ist die Reduzierung des oftmals über Jahre etablierten Silodenkens in einzelnen Kanälen, das häufig auch in der IT-Landschaft durch einen Wildwuchs an individuellen Insellösungen durchscheint, eine zentrale Herausforderung des Mittelstands. Ein neu entstehender Webshop sollte demnach von den Mitarbeitern nicht als Konkurrenz zu bestehenden Vertriebskanälen, sondern vielmehr als Anlass gesehen werden, die IT-Struktur nachhaltig zu konsolidieren und den Kunden einen weiteren Touch-Point für die Marke zu geben.

Fazit: Das Leben zwischen Schnellbooten und Ozeantankern

Unternehmen wie Amazon und Zalando, die sich zu Plattformanbietern entwickelt haben, aber auch die vielen kleinen Online-Pure-Player, die ihren Ursprung im World Wide Web haben, dominieren den Onlinehandel bereits seit Jahren und werden es voraussichtlich auch in den nächsten Jahren tun. Dieser Status quo ist vor allem in einem zentralen Vorteil begründet, den diese Unternehmen gegenüber den originär stationären Händlern haben: Sie konnten ihr Geschäft, ausgestattet mit viel Investitionskapital, buchstäblich auf der grünen Wiese aufbauen und müssen dementsprechend nicht einer jahrzehntelangen Firmenhistorie gerecht werden, die unzählige gewachsene Strukturen hervorgebracht hat. Darüber hinaus verfügen sie über wertvolles Digital-Know-how, eine moderne Unternehmenskultur und agile, gelebte Prozesse – wichtige Erfolgsfaktoren, die insbesondere Mittelständlern häufig fehlen.

Dieses Dilemma ist jedoch kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Schließlich liegt die Lösung meist in der Verschlankung komplizierter Geschäfts- und IT-Prozesse. Die Hauptaufgabe der Mittelständler besteht somit darin, ein eigenes Territorium abzustecken und eine Nische zu finden, in der sie sich auf ihr Kerngeschäft fokussieren und ihren Kunden mit angemessenem IT-Aufwand einen spürbaren Mehrwert bieten können. Die wenigen Vorteile gegenüber den Pure-Playern wie persönlicher Kundenkontakt, regionale Nähe sowie tiefgreifende Insights über ihr Sortiment und ihre Bestandskunden müssen aktiv genutzt werden, um der reinen produktbezogenen Vergleichbarkeit entgegenzuwirken und in Verbindung mit einer sinnvollen Multichannel-Strategie ein echtes Alleinstellungsmerkmal herauszuarbeiten, das die Kunden überzeugt. Wie vielen Händlern dieser Drahtseilakt gelingen wird, steht allerdings noch in den Sternen.

 

[1] http://www.einzelhandel.de/index.php/presse/zahlenfaktengrafiken/item/110185-e-commerce-umsaetze

[2] Arthur D. Little / eco: Die deutsche Internetwirtschaft 2015-2019, 2017: https://www.eco.de/wp-content/blogs.dir/studie_internetwirtschaft_2015-2019.pdf

[3] KfW Research, Dr. Michael Schwartz: E-Commerce steckt im Mittelstand noch in den Kinderschuhen, 2017: https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Fokus-Volkswirtschaft/Fokus-2017/Fokus-Nr.-161-Februar-2017-E-Commerce.pdf

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